New York-Spätlese: Praktikum und Umbruchsituation an der NYPL

Immer noch schwirren mir viele Erinnerungen, Bilder und Situationen aus New York durch den Kopf. Und da ich vor Ort lange nicht über alles schreiben konnte, folgt auf die Washington-Nachlese noch eine New York-Spätlese in mehreren Teilen, angefangen beim Praktikum und der schwierigen, aber in manchen Teilen auch aussichtsreichen Situation, in der sich die New York Public Library gerade befindet…

Praktikum – Aufgaben

Über das Singer’s Journal und Leo Liepmannssohns Antiquariatskataloge konntet ihr ja schon einiges lesen. Nach diesen beiden erwartete mich mit dem Nachlass des amerikanischen Komponisten George Frederick Bristow (1825-1898) das umfangreichste von insgesamt vier Projekten. Sämtliche seiner Manuskripte waren schon in den OPAC eingearbeitet worden. Zusätzlich existierte eine Mikroverfilmung, die jedoch nur teilweise im Katalog auftauchte und darüber hinaus eine bedingt andere Reihenfolge als die physische Sammlung aufwies. Meine Aufgabe bestand nun darin, die physische Sammlung anhand der Katalogdaten mit dem Mikrofilm zu synchronisieren. Das bedeutete viele Stunden vor einem Microfilmlesegerät zu verbringen, die drei Rollen (reels) in mehreren Durchgängen zu erschließen, mit den OPAC-Daten zu vergleichen und das jeweilige Mikrofilmpendant mit dem Original zu verbinden (zunächst nur schriftlich in einer Excel-Tabelle, da der OPAC zu jener Zeit nicht bearbeitet werden konnte).

George Frederick Bristow auf Mikrofilm

George Frederick Bristow auf Mikrofilm

Ich muss gestehen, bis dahin noch nicht ein einziges Mal mit einem Mikrofilmlesegerät gearbeitet zu haben. Insofern waren erstmal Einarbeitung (komplett manuelle Bedienung bei dem Exemplar) und Gewöhnung angesagt – vor allem anfangs ging das doch ganz schön auf die Augen. Das Verfolgen des Bildausschnitts bei zu schnellem Drehen der Rolle habe ich mir jedenfalls recht schnell abgewöhnt, nachdem mir zur Mittagspause ein bisschen komisch wurde… Anfängerfehler…^^

Aber zurück zum Arbeitsablauf: Was zunächst sehr flüssig ablief, artete später in eine regelrechte Detektivarbeit aus. Während ein Großteil der Manuskripte auf dem Mikrofilm nämlich leicht zu entziffern war, musste man vor allem bei Bristows umfangreicheren Werken sehr genau hinschauen, um einzelne Skizzen oder unvollständige Abschnitte entziffern und dem jeweiligen Stück zuweisen zu können – nie vergessen werde ich wahrscheinlich die Oper “Rip van Winkle”…^^ Dieser letzte Teil der Arbeit hat mir am meisten Spaß gemacht, weil ich mich dabei wirklich mal an einer etwas tiefergehenden Quellenstudie versuchen konnte. Interessant übrigens auch, dass man mit der Zeit tatsächlich über eine gewisse Kenntnis der Handschrift eines Komponisten verfügt und beim häufigen Durchblättern der Werke bestimmte Stellen wiedererkennt. Darüber hinaus durfte ich feststellen, dass auch Komponisten früher mal eine kleine Ablenkung brauchten… 😉

auch Komponisten lenken sich mal ab

auch Komponisten lenken sich mal ab

In der letzten Praktikumswoche gab es noch eine relativ schnell zu erledigende Aufgabe, allerdings wieder mit sehr interessantem Material. Ich musste die Titel einer Reihe französischer Opern samt Komponist und Entstehungsjahr auflisten. Dazu nahm ich mir erst einmal ganz unspektakulär die entsprechenden Karten aus dem Zettelkatalog vor…

Katalogkarte

der Zettelkatalog ruft (hier allerdings eine andere Karte)

…bevor ich mich ans Originalmaterial machen konnte: Eine sechszehnbändige Ausgabe französischer Opernlibretti im Umfeld des französischen Königshofes, gedruckt in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts.

recueil général des opéra

recueil général des opéra

Bemerkenswert daran war vor allem der hervorragende Zustand des mittlerweile fast 300 Jahre alten Papieres…

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis, zweiter Band (table du tome second)

Ab und zu sind einzelne Libretti mit wunderschön detailreichen Illustrationen ausgstattet, wie hier zum Beispiel bei Zéphire et Flore mit der Musik von Jean-Louis und Louis Lully, den beiden Söhnen des berühmten Jean-Baptiste Lully, der lange Zeit Hofkomponist Ludwigs XIV. war und die französische Musikszene seiner Zeit geradezu monarchisch “regierte”.

Illustrationen

Illustrationen

Umbruch in der NYPL – die negativen Seiten

Mein Praktikum fiel zufälligerweise in eine sehr turbulente Zeit. Wie ich schon vor Ort kurz berichtet hatte, ist die NYPL gerade einer Restrukturierung von größeren Ausmaßen unterworfen. Dabei geht es in erster Linie um die organisatorische Zusammenführung der branch libraries (dem Großteil der New Yorker Bibliotheken, entspricht unseren ÖBs) und der vier großen research libraries (eher wissenschaftliche Spezialbibliotheken). Dass die beiden bisherigen Kataloge LEO und CATNYP dabei zusammengelegt werden, könnte man noch als Erleichterung für den Nutzer sehen, da dieser in Zukunft nur noch ein System bemühen muss.

LPA, research library: Reference Desk, Arbeitsbereich und Kartenkatalog

LPA, research library: Reference Desk, Arbeitsbereich und Kartenkatalog

Was sich allerdings aus der Reorganisation für die Library for the Performing Arts (LPA) ergibt, ist nicht gerade ermunternd… die Zusammenlegung von circulating (EG, 1. Etage) und research collection (2. Etage) wird zunächst von einer neuen Raumaufteilung begleitet. Diese ist, was die großen Entscheidungen angeht, leider nur sehr wenig mit den Mitarbeitern abgesprochen, eher von oben herab festgelegt worden, was zu teils wenig nachvollziehbaren Plänen geführt hat (ich darf nicht weiter ins Detail gehen). Das aktuelle Haushaltsloch wird außerdem höchstwahrscheinlich zu Stellenstreichungen führen. Schon jetzt geht das Budget in einigen Bereichen der Bibliothek gegen Null – beispielsweise können in diesem Jahr keine weiteren Monografien in der Musikabteilung mehr erworben, laufend müssen weitere Zeitschriftenabonnements gekündigt werden. Nach Jahrzehnten eines zweigleisigen Systems müssen sich die Mitarbeiter nun an einen veränderten Workflow gewöhnen, was die Nutzung der Bibliothek angeht – viele können sich nicht vorstellen, wie es funktionieren soll, wenn zukünftig der Wissenschaftler mit einer komplexen Forschungsfrage und der Schüler, der gerne das neueste Album von den Kaiser Chiefs ausleihen möchte, zukünftig an einem einzigen Reference Desk ihre Fragen beantwortet bekommen (es war als vorbereitende Maßnahme immer wieder von cross-training zwischen den Abteilungen die Rede). Das alles führte während meiner Zeit dort verständlicherweise zu einer etwas gedämpften Stimmung.

playback area

LPA, research library: playback area

Es wird schon irgendwie weitergehen. Bleibt nur, die NYPL in ihrer prekären Lage ein bisschen zu unterstützen und zu hoffen, dass die LPA und die Mitarbeiter das Beste aus der Situation machen, um den guten Service einer bislang wirklich klasse ausgestatteten Bibliothek aufrechzuerhalten.

Relaunch der Webseite – Aufbruch

Es gibt aber neben all den eher beunruhigenden Aussichten durchaus auch etwas Positives an der ganzen Geschichte. Zum Beispiel wird die Webseite der NYPL im Rahmen der Umstrukturierung völlig neu aufgesetzt (wenn sich an den bisherigen Plänen nichts geändert hat, dürfte es Anfang Juni soweit sein). Dafür zeichnet die Digital Experience Group, ehemals Digital Library Program, verantwortlich. Sie soll aus der ursprünglich eher behäbigen Seite mit über 6000 statischen Unterseiten eine flexible und dynamische Internetpräsenz basteln, die ab dem Relaunch kontinierlich verändert und verbessert werden kann (“Life is beta”…^^) – Basis dafür wird übrigens Drupal sein.

Im neuen System sollen Blogs DIE zentrale Rolle beim Herausstreichen bestimmter Kollektionen und besonderer Einzelstücke spielen. Dementsprechend intensiv versucht man schon seit Längerem, die Mitarbeiter an das für viele noch neue Medium heranzuführen. Bislang werden alle Einträge auf einer Seite zusammengeführt…

Blogging @ NYPL

Blogging @ NYPL

…doch auf der neuen Webseite sollen die Beiträge gezielt (z. B. auf der Startseite) und an ganz verteilten Stellen eingebunden werden. Das neue Konzept wird auch von der Führungsebene unterstützt, beispielsweise durch eine (damals in Aussicht gestellte) modifizierte library policy, die die Blogs als einen Raum der persönlichen Meinungsäußerung der Mitarbeiter berücksichtigt.

Digital Gallery, Ausschnitt

Digital Gallery, Ausschnitt

Das Schreiben über die Kollektionen ist das eine – die Digitalisate der jeweiligen Bestände sollten natürlich auch vorliegen, um in den Artikeln verlinkt werden zu können. Bislang sind diese über die Digtal Gallery zugänglich.

NYPL @ flickr

NYPL @ flickr

Darüber hinaus bemüht sich die Digital Experience Group erfreulicherweise, die NYPL und ihre Bestände bei Facebook, Twitter und Co sichtbar zu machen und damit Wirkungsgrad und Zugänglichkeit auch außerhalb der eigenen realen und digitalen Wände zu vergrößern.

Youtube-Kanal, Ausschnitt

Youtube-Kanal, Ausschnitt

Fazit

So unangenehm der Umbruch innerhalb der NYPL für manche Bibliotheken auch sein mag, er birgt, wie ihr am Beispiel der Webseite gesehen habt, in einigen Bereichen auch Chancen im Neuanfang. Was die allgemeine Situation der NYPL angeht, habe ich eine sehr ereignisreiche Zeit miterlebt: Da ich neben alltäglichen Gesprächen mit Kollegen auch an mehreren Sitzungen auf unterschiedlichen Ebenen teilnehmen durfte, konnte ich einen guten Eindruck davon bekommen, was die andauernde Wirtschaftskrise für Auswirkungen auf eine so große Institution wie die NYPL hat und welche Probleme sich daraus im Krisenmanagement ergeben können.

Neben diesem immer irgendwie präsenten Thema darf man aber das Praktikum an sich nicht vergessen: Während meiner Zeit dort habe ich nämlich mit recht unterschiedlichen und sehr interessanten Beständen der Musikabteilung gearbeitet, konnte ganz praktikumstypisch in alle Abteilungen und Arbeitsbereiche der Bibliothek reinschnuppern (Reference service inklusive) und nebenbei noch einige Bonbons wie den Vortrag von Jeff Jarvis mitnehmen. Bei alldem habe ich vor allem das lockere Arbeitsklima sehr genossen!

Abschließend drängt sich noch ein kurzer Vergleich von NYPL und LoC auf… meiner Meinung nach nehmen sich beide Bibliothekssysteme an Einzigartigkeit nichts. Wenn ich nach den Arbeitsbedingungen gehe, ist die Library of Congress mit ihren vielen Superlativen, einer kaum zu überbietenden Sammlung, sicheren Jobs und stabilen Ressourcen deutlich im Vorteil. Was die NYPL so einzigartig macht, ist ihre Vielseitigkeit innerhalb eines an die hundert Filialen starken Systems von Zweigstellen, das flexibel und kreativ auf die Bedürfnisse der so multikulturellen wie schnelllebigen Weltmetropole New York reagieren muss und dies auch immer wieder auf beeindruckende Art und Weise schafft (darum wird es auch u. a. im nächsten Blogpost gehen). Von daher kann ich nur sagen: Auf nach New York City UND Washington D.C.!!! 😉

Leave a comment